Heute geht es sehr früh raus, wir fliegen nach Nagasaki. Für ein Frühstück bleibt keine Zeit und gefühlt zu schnell verlassen wir das sonnige Tokio und landen im leicht verregneten Nagasaki. Der Eindruck ist gleich ein ganz anderer. Nagasaki ist klein und hügelig, Landwirtschaft gehört noch zur regionalen Wirtschaft.
Kurz pausieren wir in einem Einkaufscenter, wo wir uns für den langen Nachmittag stärken. Das brauchen wir, denn es geht ins „Nagasaki Atomic Bomb Museum“, der japanischen Antwort auf die Führung in Ravensbrück.
Der Eingang in die Ausstellung ich fast dasjenige, das mich am Meisten packt. Er zeigt eine zerstörte Uhr, deren intakt gebliebene, verrostete Zeiger eine Uhrzeit zeigt: Der Zeitpunkt als die Welle der zweiten Atombombe Nagasaki erfasst und beinahe vollständig zerstört.
Ich bin erst einmal sprachlos, genau wie die anderen. Mit unseren Audioguides durchlaufen wir die Ausstellung sprachlos. Wir lernen wie eine Atombombe funktioniert und welche verherenden Auswirkungen sie hat, wir erfahren die lächerlichen Gründe für diese neue Dimension der Vernichtungstechnologie, wir sehen und hören mit eigenen Augen und Ohren was die extreme Wirkung der Bombe auf den menschlichen Körper hat, wie Tausende gestorben sind und andere Hunderte mit extremen Verletzungen leben müssen.
Ebenso schockiert mich die aufgestellte Weltkugel, mit dazugehörigem Zeitstrahl, die noch bis heute andauernden Atom- und Wasserstoffbombentests zeigt – als schwarze hässliche Wülste, die aus ihr hervorragen.
Nach dem Museum sind wir leiser als zuvor. Wir hören aufmerksam zu als wir durch den angegliederten Peace Park geführt werden. Die im Park verteilten internationalen Statuen mahnen den Frieden einzuhalten und vom weiteren Aufrüsten hochgefährlicher abzusehen.
Die Kraniche, die wir während unseres Aufenthalts in Tokio gebastelt haben, hängen wir zu den anderen tausenden und abertausenden Kranichketten, die in Museum und Park verteilt sind. Wir denken an den letzten Teil der Ausstellung, Nagasakis Erklärung, keine Atomwaffen aufzurüsten, der sich inzwischen einige Länder angeschlossen haben. Große Industrienationen rüsten auf und scheinen den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben.
Genau aus diesem Grund ist es für uns junge Menschen wichtig, vergangene Ereignisse zu reflektieren und uns für eine bessere Zukunft zu engagieren.
Unser Vorbereitungsseminar im Oktober steht anfangs unter keinem guten Stern. In der Nacht zuvor hat ein Sturm über Berlin gewütet und etliche Züge verspäten sich oder sind ganz ausgefallen. Besonders schlecht läuft es für unsere Delegationsmitglieder, die mit genau diesen nach Berlin fahren. Zum Start des Vorbereitungstreffens um 15 Uhr fehlt noch immer knapp die Hälfte der Delegation. Besonders schlimm trifft es unsere zugfahrende Nora, die mit erkälteter Nase wieder heimkehren muss bevor sie überhaupt in Berlin eintreffen konnte. Wir wünschen dir gute Besserung, Nora!
Immerhin gibt es auch noch etwas Positives. Wir lernen Haben kennen, und später am Abend auch Constanze; die letzten beiden aus unserer Delegation, die leider beim Treffen in Ravensbrück nicht dabei sein konnten.
Wir warten noch eine Weile und stärken uns mit Kaffee, Tee und Kuchen, dann aber fangen wir an.
Sehr herzlich empfängt uns Frau Bosse, die Generalsekretärin des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin (JDZB). Sie stellt uns das JDZB vor, die Angebote, die das Haus bietet, und gibt uns einen kleinen Überblick über die Austauschprogramme mit Japan. Immer wieder betont sie, wie wichtig solche Austausche sind, tragen sie nicht nur zum gegenseitigen Verständnis bei und zur persönlichen Entwicklung, sondern können auch gesellschaftliches Umdenken bedingen. Sie bedankt sich bei uns, denn die Austausche leben vom Interesse und dem Engagement der Teilnehmer. Wir wiederum danken dafür, dass wir Teil dieses Abenteuers sein dürfen.
Hitomi und Nauka, unsere beiden – stets geduldigen 🙂 – Betreuerinnen im JDZB, hatten zwar keine weite Anreise, hatten aber durch den Sturm dennoch alle Hände voll zu tun.
Unsere Fotobeauftragte testet die Kamera.
Durch das späte Eintreffen mancher unserer Zugfahrer mussten sie unser Wochenendprogramm umstellen, damit alle an den wichtigsten Punkten teilnehmen können. So verschieben wir unseren kleinen Basic-Japanischkurs auf den nächsten Tag und starten in das interkulturelle Training mit einer essentiellen Frage:
„Was ist Kultur?“
Wir sammeln Begriffe, die unserer Meinung nach Kultur ausmachen und debattieren darüber wie sichtbar sie sind. Danach überlegen wir uns was eigentlich typisch deutsch und typisch japanisch ist. Zum Schluss spielen wir ein Spiel, das uns erleben lässt wie es ist, wenn jemand seine eigene Kultur in unsere einbringt.
Der Tag ist geschafft und wir gehen bereits jetzt wie eine Delegation gemeinsam ins Hostel zum Check-In. Wir stoßen auf die letzten Verspäteten. Nach einem langen Tag und der nervenaufreibenden Anreise erkunden wir erst einmal Berlin rund um unser Hostel und lassen den Abend mit exotischen Getränken wie einem Mango Lassi ausklingen.
Samstag, 7. Oktober 2017 (Mareike)
Nach dem Frühstück machen wir uns wieder auf zum JDZB, damit wir alle weiteren wichtigen Infos erhalten. Zunächst erfahren wir einiges über unser Gastgeberland Japan.
Mit Kaffee und Wasser in den langen Tag!
Da wir uns während unserer Reise viel mit der japanisches Arbeitswelt und dem Bildungs- und Ausbildungssystem beschäftigen werden, tauchen wir in die Materie ein. Wir merken, dass sich das klassische Arbeitsbild in Japan langsam wandelt. Mit diesen Infos können wir uns prima auf unseren Aufenthalt und Aufgaben vorbereiten und auch aus erster Hand erfahren wie weit dieser Wandel fortgeschritten und bei der japanischen Jungend schon spürbar ist. Wichtig sind in dem Zusammenhang auch aktuelle politische Themen. Gerade die Energiepolitik im Hinblick auf Atomstrom erlebt immer Auf‘s und Ab‘s: zeitweise wird sich sehr für erneuerbare Energien eingesetzt. Je nachdem, wer gerade die Regierung bildet, setzt man sich mehr oder weniger bis gar nicht für das Thema ein. Ein ständiger Begleiter Japans bleiben auch die Territorialkonflikte mit China und Korea.
Endlich erhalten wir auch das Programm, welches uns in Japan erwartet. Im November werden wir 7 Tage in Tokyo, einige Tage in Isahaya und die restliche Zeit in Nagasaki verbringen. Vor Ort besuchen wir unter anderem einen Businessworkshop, erhalten einen Einblick in die Produktion unterschiedlicher Firmen, treffen unsere Freunde aus der japanischen Delegation und –wahrscheinlich für alle am Aufregendsten- werden ein Wochenende in einer Gastfamilie verbringen.
Wer ein fremdes Land besucht, möchte sich auch verständigen können, oder wenigsten die wichtigsten Sätze aussprechen können. Jeden Gastgeber freut es, wenn man ihn in seiner Sprache begrüßen oder sich bedanken kann. Also üben wir fleißig kon-nischiwa (= guten Tag) und arigato (= Danke). Für uns Europäer ist die japanische Sprache sehr ungewohnt, aber dennoch macht es viel Spaß japanische Sätze zu üben. Wir erhalten noch ein kleines Wörterbuch für die Tasche, es kann also nichts mehr schief gehen ;-).
Einige Teilnehmer aus dem letzten Jahr besuchen uns und geben ihre Erfahrungen weiter.
Die Ehemaligen aus 2016 geben uns Tipps.
Sie machen uns auf bestimmte Situationen aufmerksam, die uns in Japan begegnen können. Da die Japaner ein sehr höfliches und aufmerksames Volk sind, werden sie alles daran setzen ihren Gast glücklich zu machen. Die japanische Geschenkekultur haben wir ja schon ein wenig im August kennengelernt. Wenn wir von hübschen Dingen schwärmen, kann es passieren, dass man dies dann auch geschenkt bekommt. Hier gilt also Zurückhaltung.
Wichtig für die zwei Wochen ist natürlich auch das Gepäck. Dementsprechend gibt es eine Einheit „Ich packe meinen Koffer …“ – was muss unbedingt mit?, was kann auch zu Hause bleiben?, wie bekomme ich die Gastgeschenke unbeschadet transportiert?.
Zudem zeigen uns die Drei Fotos ihres Aufenthaltes in Japan, was die Vorfreude weiter steigen lässt.
Den Abschluss des Abends bietet das Abendessen „Sushi für Anfänger“. Es ist ein tolles Buffet mit unterschiedlichen Sushi-Portionen aufgebaut. In Japan wird mit Stäbchen gegessen, deshalb erhalten wir eine Einführung. Und dann schlemmen wir. Auch wenn diese Form von Besteck für uns ungewohnt ist und der eine oder andere noch etwas üben muss, wird jeder satt. Wir freuen uns schon die japanische Küche weiter kennenzulernen.
Nach der Klärung von organisatorischen Dingen, machen wir uns auf dem Weg zum Hostel, wo sich einige von uns noch gemütlich zusammensetzen.
Unser Schlemmerbuffet – lecker!
Sonntag, 8. Oktober 2017 (Melitta)
Am Sonntagmorgen ist das Vorbereitungsseminar fast zu Ende.
Unser Programm in Japan <3 (gelbes Blatt)
Trotzdem nutzen wir die letzten gemeinsamen Stunden, denn es ist noch viel zu klären. Wer bringt welches Geschenk für wen mit? Wer kann Kleinigkeiten für die in-petto-Geschenke mitbringen? Wer besorgt SIM-Karten, damit wir auch in Japan noch kostengünstig in Kontakt bleiben können?
Liste über Liste hängt an der Eingangstür aus.
Schließlich einigen wir uns auch auf das Wichtigste: unser Kulturbeitrag. Wir nutzen auch gleich die Gunst der Stunde und üben gemeinsam und haben Spaß dabei. Wir hoffen, die Japaner haben mindestens genauso viel Vergnügen, wenn wir unseren großen Auftritt haben.
Danach sind wir geschafft. An einem Wochenende haben wir viele noch offene Fragen geklärt, Aufgaben verteilt und uns noch besser kennen gelernt.
Zum Schluss moderieren Hitomi und Nauka die Abschlussrunde, die ursprünglich als Einstiegsrunde am Freitag gedacht war. Jeder von uns soll überlegen, was wir von uns als Gruppe erwarten, was wir uns von Ulrike, unserer Delegationsleiterin, wünschen und gegen welche Befürchtungen es anzugehen gilt. So unterschiedlich wir auch sind, so kristallisiert sich heraus, dass wir als Gruppe auftreten und zusammenhalten wollen, auch wenn wir uns nicht immer einig sind und uns eine Reise bevorsteht, die nicht immer entspannt verlaufen kann.
Als wir uns verabschieden und jeder seinen Weg nach Hause antritt, geht uns ein gemeinsamer Gedanke durch die Köpfe: nur noch ein Monat und eine Woche!
Für mich war die Führung durch die Gedenkstätte Ravensbrück eine besondere Erfahrung. Es war mein erster Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers überhaupt.
Die Führung beginnt in der Früh, vor dem größten Gebäude des Jugendherbergengeländes. Wir sind noch etwas verschlafen, weil – wie es eben nun einmal so ist mit jungen Menschen in Jugendherbergen – die vorherige Nacht doch recht kurz war. Aber die Sonne scheint und der Himmel ist sommerblau.
Die Führung beginnt mit Sonnenschein
Ich bin gespannt, denn ich bin eine der wenigen, die noch nie eine KZ-Gedenkstätte besucht haben. Uns erwartet Angi, die schon seit 15 Jahren pädagogisch in der Gedenkstätte arbeitet. Es erfolgt gleich die Aufforderung uns noch einmal umzuschauen auf dem großen Hof der Ansammlung von Häusern, in denen wir untergebracht sind, Mädchen im Haus „Linde“, Jungs im Haus „Weide“. Uns allen wird etwas mulmig als sie uns offenbart, dass wir in genau den Räumen geschlafen haben, in denen vor 60 Jahren die Aufseherinnen des ersten und einzigen Frauen-KZs gewohnt hatten.
Sie führt uns an dem Hügel vorbei, auf dem eine breite Treppe hinauf zu einem weiteren Haus führt. Das sieht schon weniger nach Jugendherbergenunterkunft und viel mehr nach Einfamilienhaus aus. Das Einfamilienhaus auf dem kleinen Erdhügel, das auch wirklich eines war, versinnbildlicht die Machtstruktur der KZs. Im Frauen-KZ arbeiteten ausschließlich nichtjüdische Frauen als Aufseherinnen, die eine an Absolution grenzende Macht auf die inhaftierten Frauen ausüben konnten, aber selbst über der Oberaufseherin stand ein Mann. Ein General des NZ-Regimes wohnte mit seiner Familie in dem Haus auf dem Hügel. Den Aufseherinnen war männlicher Besuch untersagt.
Das nächste Mal bleibt Angi vor einem breiten Gebäude stehen, die letzte Station vor dem KZ selbst. Sie kann dokumentierte Geschichten erzählen. Von der chinesischen Diplomatentochter, die inhaftiert wurde, weil sie Juden zu falschen Pässen und Ausreisepapieren verholfen hatte oder der kleinen Lisbeth, die als Vierjährige zusammen mit der Mutter verhaftet und hierher verschleppt wurde und die nach der Befreiung des KZs nichts weiter über sich sagen konnte als ihren Namen. Erst im Erwachsenenalter war es ihr endlich möglich den Vater ausfindig zu machen, der das KZ ebenfalls überlebt hatte. Das Frauen-KZ war nicht nur dazu da Jüdinnen einzusperren und zu brechen, sondern auch andere Frauen, die als für die Gesellschaft untauglich galten, wie politisch aktive Gegenspielerinnen, Romafrauen, Frauen mit Schwangerschaftsabbrüchen oder Frauen, die als „arbeitsscheu“ galten. Genauso wie Kinder von verhafteten Frauen, für die keine andere Unterkunft gefunden werden konnte, und die kurzerhand mitinhaftiert wurden. Eine eigene Sträflingsnummer inklusive.
Aufseherin: „Du kannst das nicht! Du bist so ungeschickt und dumm!“
Dann ist es so weit. Wir laufen an einem löchrigen Stück Mauer vorbei und betreten das ehemalige KZ. Ich hatte die Vorstellung gehabt, die Geschichte dieses Ortes sei so alt, inzwischen müsste sich die Natur die mit Stacheldraht eingezäunte Fläche zurückerobert haben. Gras, Blumen, Gestrüpp müsste dafür gesorgt haben, dass diese Seite des Zaunes ähnlich aussieht wie die andere. Aber der Ort ist genauso hässlich wie seine Geschichte.
Der Boden besteht aus aufgeschütteten grauschwarzen Steinen. Außer ein paar heruntergekommenen Häusern an der Seite steht hier nichts. Der Anblick erinnert mich an eine angefangene und ignorierte Baustelle. Nur ein paar Bäume bilden eine Art Allee und passen gar nicht ins unattraktive Landschaftsbild.
In den Vertiefungen standen die Baracken
Angi erzählt uns die Geschichte der Bäume und der tiefergelegenen, länglichen Vierecke in den Steinen. Am Anfang war das KZ mit ein paar tausend Häftlingen belegt, zum Ende hin mit 35.000. Wir sind etwas erschrocken. Wir sehen uns die tiefergelegten Flächen an, die wir vor uns haben. Jedes gerade so breit, dass sich vielleicht vier von uns mit ausgestreckten
Armen nebeneinander stellen können, vielleicht zehn an der Längsseite. Hier schliefen, wuschen, kleideten sich in Baracken zu „guten“ Zeiten 200 Frauen und Mädchen, in „schlechten“ Zeiten über 1.000. Bis zu sechs Frauen mussten sich ein einziges Bett teilen.
Aufseherin: „Du verweigerst die Arbeit! Du bist faul!“
Der Tag der inhaftierten Frauen und Mädchen begann früh, schon vor 4 Uhr morgens, mit stundenlangem Stillstehen in Reihen, damit der Zählappel der Aufseherinnen von statten gehen konnte. Dabei war es völlig egal wer jung oder alt, wer krank oder gesund, wer hungrig oder weniger hungrig war. Wer nicht still auf den Beinen stand wurde bestraft. Wer seiner Erschöpfung erlag oder die Bestrafung nicht überlebte wurde bis zum Ende liegen gelassen.
Der restliche Tag bis zum nächsten Zählappel bestand aus Arbeit. Hierbei diente die Arbeit nicht immer als Beitrag zur Verschönerung der Ortschaft – wie die Allee der Bäume – sondern durchaus auch als Kontroll- und Erniedrigungswerkzeug. Angi wird uns gleich noch die „Steinrolle“ zeigen, ein Gestell aus Eisen, mit dem die Inhaftierten wie Zugpferde eine mehrere Tonnen schwere Walze aus Stein hinter sich herziehen mussten um den Boden zu glätten. Die unter den gefangenen Frauen unbeliebteste und gefährlichste Aufgabe. Die Arbeit an der Steinwalze war für die schwachen und ausgehungerten Frauen nicht nur extrem schwer, sie fand zu jeder Wetterbedingung statt und die Aufseherinnen bestimmten ob die Walze von zwanzig oder nur von zehn Frauen gezogen wurde. Tödlich konnte die Arbeit für diejenigen verlaufen, die während des Ziehens zusammenbrachen, denn wenn die Aufseherinnen bestimmten, dass die Arbeit nicht unterbrochen werden durfte, dann wurden die inhaftierten Frauen ungewollt ebenfalls zu Mörderinnen.
Auch wenn es sich paradox anhört, die gemeinsame Haft schweißte die Frauen nicht immer zusammen. Das wenige Essen, das aus Brot und Kohlsuppe zum Frühstück und Abendessen bestand, das stundenlange Stillstehen, die harte Arbeit, der enge unhygienische Raum, der es Parasiten wie Läuse und Krätze und Krankheiten wie Typhus leicht machte, der extreme Stress, ausgelöst durch die andauernde Todesangst und die ständigen Erniedrigungen, trieben die Frauen nicht nur in den Tod sondern auch in einen gnadenlosen Überlebensmodus. Die Inhaftierten waren den Aufseherinnen gänzlich ausgeliefert, von deren willkürlichen Ermessen hing alles ab.
Aufseherin: „Du bist unverschämt! Du bist ein frecher und böser Mensch!“
Die Schneiderei zeigt heute Ausstellungen zum Thema
Unsere Führung geht weiter, über den Weg, den die Steinwalze hinterlassen hat, hin zu einem großen Gebäude. Die ehemalige Schneiderei, wie uns Angi erklärt. Eine der begehrtesten Arbeiten war die als Schneiderin. Auch unter den Umständen, dass die Inhaftierten die Uniformen für ihre Unterdrücker nähten oder sie verprügelt werden konnten, wenn der Aufseher der Schneiderei, der einzige Mann auf dem Gelände, einen seiner Wutanfälle hatte. Aber die Aufgaben waren nicht nur auf das Lager beschränkt. Akribische Dokumentationen beweisen, dass große Firmen wie Siemens sich die kostenlosen Arbeitskräfte aus dem Lager ausliehen um Aufgaben zu erledigen, die man den eigenen Mitarbeitern nicht zumuten wollte und die durchaus mit giftigen Substanzen zu tun hatten.
In uns kommt die Frage nach den Aufseherinnen auf. Die Angst und der Überlebenskampf der inhaftierten Frauen erscheint uns verständlich, aber was treibt die Aufseherinnen dazu an über die menschenunwürdigen Bedingungen, die Erniedrigungen und die Ermordungen nicht nur hinweg zu sehen sondern diese auch aktiv zu bedingen. Angi erklärt uns die Schulungen der Aufseheranwärterinnen. Abgesehen von der alltäglichen Propaganda besuchen die Aufseherinnen Vorbereitungsseminare, in denen das Gedankengut der Nationalsozialisten gefestigt werden soll und in denen gezielt die Inhaftierten entmenschlicht werden. Hinzu kommen die attraktiven Bedingungen wie ein eigenes Zimmer und ein Lohn, der den einer Fabrikarbeiterin weit übersteigt. Die beste Werbung für neue Aufseherinnen sind die Aufseherinnen selbst, die sich von den besseren „Arbeitsbedingungen“ locken lassen und diese an ihre Freundinnen und Bekannten weitergeben. Und schließlich ist es die beinahe uneingeschränkte Macht über andere, die für Arbeiterfrauen eine völlig neue Erfahrung war. Mit Statements wie diesen wurden die unwürdige Behandlung und die Bestrafungen legitimiert:
Aufseherin: „Du stinkst und du bist schmutzig!“
Die Nachkriegszeit gibt ihnen Recht: von den 3.500 Aufseherinnen, die bis zur Befreiung im KZ gearbeitet hatten, wurden nur 70 angeklagt, davon 30 verurteilt.
Die Führung endet schließlich außerhalb des KZs; beim Krematorium. Hier wurden unter strenger Aufsicht die toten Inhaftierten von lebenden Inhaftierten verbrannt und die Asche für ein hübsches Rosenbeet genutzt. Von hier aus kann man die Stadt Ravensbrück am gegenüberliegenden Ufer des Sees erahnen, genauso wie von der Stadt aus der Rauch aus dem Schornstein stetig zu sehen war. Menschen, die über die Grausamkeiten im KZ hinweggesehen und sich beteiligt hatten, müssten noch heute dort leben. Es passt zusammen wie ein Zahnrad: Zuschauer, kleine Akteure und Täterinnen.
Oli testet das Gewicht der Steinwalze
Angi stellt uns eine Aufgabe. Wir werden in Gruppen aufgeteilt und sollen uns zwei Fotomotive wählen und dann allen vorstellen. Wir wählen Motive aus, die uns inkludieren. Wir knien in unterschiedlichen religiösen Gebetshaltungen vor dem Blumenbeet, wir stellen das Machtgefälle zwischen Oberbefehlshaber, Aufseherinnen und Gefangenen nach, wir stecken die Unterkunft der Inhaftierten mit unseren eigenen Körpern ab um deren Größe zu erfassen. Angi ist stolz auf uns, weil wir den Mut haben uns selbst auf den Bildern zu verewigen und so den Fotos Leben einhauchen, schließlich ist ein KZ ein toter Ort. Es wirkt makaber.
Sie erzählt davon wie schwer es manches Mal ist die Gedenkstätte so zu erhalten wie sie ist. Die politische Führung der DDR hätte die Gedenkstätte gerne als Werbung für den Sozialismus genutzt, der jetzige politische Fokus möchte über Menschenrechte sprechen.
Wir wollen hier nicht von Menschenrechten erzählen, wir reden über Menschenrechtsverletzungen. Das ist Angis Statement.
Auch nach der Führung, des „Fotospaziergangs“ und der Fragerunde mit Angi hänge ich meinen Eindrücken des ehemaligen KZs noch etwas nach. Ich frage Akiko ob sie in Japan auch solche Gedenkstätten haben. Auch in Japan gab es Zeiten, in denen unvorstellbar grausame Menschenrechtsverletzungen legitimiert stattfanden. Nein, sagt sie. Gedenkstätten, die die Täterschaft der eigenen Bevölkerungen veranschaulichen gibt es nicht, nur die für die eigene Opferrolle, wie das Denkmal für die Toten von Hiroshima.
Ich muss an Angis Statement denken. Völlig egal wo Menschenrechte verletzt wurden, wichtig ist es doch sich daran zu erinnern, um diese Fehler nie mehr zu wiederholen.